Was heißt hier ‚Achtsamkeit‘?

Bevor ich mich damit näher befasst habe, war mir Achtsamkeit und der Hype darum etwas (oder sogar ziemlich) suspekt. Ich habe eine lange Geschichte mit dem Begriff, die in einer Studienabschlussarbeit gipfelte, bei der ich mir seine Geschichte vorknüpfte (siehe auch unten, Fußnote*).
Mir ist das, was darunter verstanden wird, in verschiedenen Kontexten deutlich geworden und ich kann mittlerweile begründen, warum ich den Begriff selbst nur mittelmäßig hilfreich finde – und ihn trotzdem verwende. In der Sprache werden die Widersprüchlichkeiten des Lebens manchmal auf komische Art deutlich.

Es gibt uferlos Literatur zu Achtsamkeit, seit sie als Konzept zur Verbesserung des Wohlgefühls eingeführt wurde. Diese Bedeutung bzw. dieses Verständnis, dass das Wohlgefühl und die Lebensqualität mit ihr gesteigert werden kann, (ver-)führte in vielen Bereichen zu einer Übernahme: aus dem Gesundheitssektor gelangte sie in die Wirtschaft und vereinzelt gar in die Politik.
Denn wer möchte nicht mehr Wohlbefinden, mehr Leistung, mehr Aufmerksamkeit? In einer kapitalistischen Welt, wo es so sehr um das Funktionieren und um Leistungssteigerung geht, scheint es selbstverständlich, dies als Mittel zum Zweck einzusetzen, um die Teilhabe unter den bestehenden Bedingungen aufrechtzuerhalten. Wir alle erleben viel Druck und hohe Ansprüche von außen, aber auch an uns selbst. Eine Zeit lang war Work-Life-Balance das Zauberwort, um dem als Mensch gerecht zu werden, danach kam die Entschleunigung (oder war es umgekehrt?). Achtsamkeit gehört zwischenzeitlich einerseits in dieselbe Kategorie von Schlagworten zur Selbstoptimierung. Andererseits hat die Idee vom achtsam Sein eine subversive (lat. ‚umstürzlerisch, zerstörend, untergrabend‘) Eigenschaft, die sie vielleicht haltbarer gegenüber der wirtschaftlichen Verwertung und den gegenwärtigen Trend-Halbwertzeiten macht.

Damit beziehe ich mich auf die Herkunft von Achtsamkeit, die sich bei ihrer Anwendung zwangsläufig aufdrängt, sowie die daraus hervorgehende Qualität, die zwar missverstanden, aber kaum dauerhaft missbräuchlich eingesetzt werden kann. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich noch mal auf den Begriff selbst im Deutschen zurückkommen.
„Achtsamkeit“ hat nämlich in meinen Augen im Deutschen eine sehr deutliche Schlagseite in Richtung Aufmerksamkeit und Konzentration und damit verbunden Anstrengung. „Sei achtsam“ gerät in meinem Kopf schnell zu „Hab acht!“, also: Streng dich an! Selbst wenn das bei den Gelegenheiten, wo Achtsamkeit zum Einsatz kommt und geübt wird, betont nicht der Fall ist, schleicht sich diese Konnotation durch die sprachliche Hintertür gerne wieder ein.
Weshalb ich es nicht verwunderlich finde, dass viele Lehrende der ursprünglich buddhistischen Idee, wenn es um Achtsamkeit geht, lieber andere Begriffe für dasselbe Prinzip verwenden: Gewahrsein, Bewusstheit – oder gar ein Wort, das es nicht gibt: Spürsamkeit. Denn darum geht es, um die Wahrnehmung und das Erspüren von dem, was im gegenwärtigen Moment los ist, auf allen Ebenen, in den Sinnen und Gefühlen, in der Empfindung des Körpers, in den Gedanken. Dazu braucht es Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, sich zu disidentifizieren, ohne zu verschwinden. Eine Lücke oder Dehnung (wie eine Brücke mit zwei Ufern) herzustellen zwischen dem, was in mir geschieht und der Beobachtung.

Bei längerer Übung dieser ‚Technik‘ ist es möglich, die unmittelbare Reaktion auf Dinge, die geschehen oder gar unangenehm sind, hinauszuzögern. Diese Verzögerung eröffnet einen Zwischenraum der Entscheidung, wie ich reagieren möchte. Damit einher geht ganz selbstverständlich eine größere Bewusstheit von sich selbst. Man durchbricht sozusagen die Automatismen und Gewohnheitsmuster des Handelns. Um dorthin zu gelangen, braucht es ein gewisses Maß an Willen und Disziplin, die aber Teil der Übung sein können. Ich bin schon in der Achtsamkeit, wenn ich mir bewusst werde, wie es mir mit dem Übenwollen geht, und dabei bleibe (den Widerstand, die Unlust, die Neugier sehen).

Das ist die eigentliche Bedeutung von Achtsamkeit, wie sie in buddhistischen Meditationsschulen entwickelt wurde. Was man allerdings tut, wenn man die Fähigkeit, achtsam zu sein, verstärkt, weiterentwickelt, vertieft und sich schließlich angeeignet hat, liegt außerhalb des Konzeptes. Im buddhistischen Kontext gibt es eine ethische Einbettung, die mit dem Ziel in Einklang steht, sich vom Leiden zu befreien und damit Erleuchtung zu erlangen (das ist die letztendliche Befreiung und Verwirklichung) – wobei Mitgefühl und die Auflösung rein egoistischer Vorstellungen eine zentrale Rolle spielen. Achtsamkeit im westlichen Kontext, ohne dieses umfassendere Ziel, kann für alle möglichen, auch unethischen, Zwecke, quasi losgelöst, zur Steigerung der Leistungsfähigkeit angewandt werden.
Allerdings – und das ist der Grund, warum ich in meiner Praxis Achtsamkeit im westlichen Sinn einsetze – wird der bewusstere Umgang mit sich selbst sowie der bessere Kontakt zu den eigenen Gefühlen und inneren Vorgängen immer auch eine gesteigerte Wahrnehmung der eigenen Werte sowie der Verbundenheit mit sich bringen. Achtsamkeit fördert Ehrlichkeit mit sich selbst. Die Lebendigkeit und Freude, die darin liegen, werden dazu beitragen, Dinge anders zu betrachten. Und vielleicht auch die ein oder andere Entscheidung in unerwartete Bahnen lenken, wenn es darum geht, für sich und andere im besten Sinn zu handeln.

Wer eine Wortassoziation teilen möchte, kann dies hier im Mentimeter bis zum 7.9.2025 tun – das Bild wird anschließend veröffentlicht 🙂